Warum unser Verhältnis zu Tieren so kompliziert ist – und was das über uns aussagt
Unser Verhältnis zu Tieren ist äußerst ambivalent. Da gibt es die geliebten Haustiere, die ganz im Gegensatz zu Nutz- oder Wildtieren (zumindest bei uns) nicht auf dem Teller landen dürfen. Allein insofern ist bereits unsere Wahrnehmung und Kategorisierung von Tieren recht differenziert. Selbst innerhalb der jeweiligen Kategorien finden sich recht differenzierte Mensch-Tier-Verhältnisse. Finden sich in sozialen Medien beispielsweise gehypte Berichte über heroische Rettungsaktionen von Wildentenküken aus Gullys samt „Familienzusammenführung“, werden die quakenden Verwandten anderenorts zur gleichen Zeit von Jagdgesellschaften mit Schrot vollgepumpt. So manches niedliche Schweinchen fristet als umsorgtes Haustier sein Leben, während seine Artgenossen in der Fleischindustrie zu Millionen für den lustvollen Verzehr am Fließband getötet und zerstückelt werden.Gesellschaftliche Deutungskonflikte
Keine Frage, die obigen Ausführungen zeigen Eckpunkte einer recht emotionsgeladenen Auseinandersetzung über das Mensch-Tier-Verhältnis in unserer Gesellschaft, das nicht nur Privatsache ist, sondern über Gesetze und vor allem gesellschaftliche Konventionen und Diskurse vermittelt wird. Der Soziologe Dr. Marcel Sebastian, möchte mit seinem Buch die aktuelle Diskussion um tierbezogene Werte und Ideale versachlichen und die Problematik aber auch die Hintergründe der gesellschaftlichen Deutungskonflikte herausarbeiten. Dazu gehört nicht nur die historische Ableitung unseres aktuellen Verhältnisses, bei der sowohl existenzielle Fragen, Religionen und Ideologien eine zentrale Rolle spielen. Und immer wieder weist er auf die kontroversen, auch interessengebundenen Prozesse gesellschaftlicher Konventionsbildung hin, die aufgrund der veränderten existenziellen Rahmenbedingungen und technologischen Möglichkeiten in der westlichen Welt in den letzten Jahrzehnten an Fahrt aufgenommen hat und aktuell hinsichtlich tierethischer und moralischer Positionen und mehr Differenzen als Konsens in der Gesellschaft nach sich zieht.
Beitrag zur Bewältigung der aktuellen Menschheitskrise
Aber das, so der Autor liegt in der Natur der Sache, denn die Auseinandersetzungen über die unterschiedlichen Sichtweisen auf Tiere „werden nicht nur am privaten Esstisch, sondern öffentlich ausgetragen – auf der Straße, in den Medien, in Wirtschaft und Politik.“ Und bei genauerer Betrachtung geht es in diesem Konflikt um sehr viel mehr als lediglich um tierethische Konzepte oder die Frage nach „Fleisch oder Vegan“. Und so ist es kein Wunder, dass Marcel Sebastian das ganze Spektrum aktueller Diskussionen um Klimawandel, Umweltschutz, Artensterben oder Wirtschaftssystem, Gesellschaftskonzepte und Machtfragen abarbeitet, denn unsere Position zu und unser Verhalten gegenüber unseren Mittieren (schließlich sind wir trotz aller Selbstüberhöhung tatsächlich nichts anderes) und der Natur ist ein dreh- und Angelpunkt in der aktuellen Menschheitskrise, die zu bewältigen eben keine Privatangelegenheit darstellt.
Hintergründe und Denkanstöße
Streicheln oder Schlachten ist ein wie ich glaube, gelungener Versuch, anhand von vielen praktischen Beispielen und Denkanstößen, wissenschaftlichen Erkenntnissen und Problemeinordnungen, die Dimension der Gesamtproblematik zu vermitteln und neben der immer auch gegenwärtigen emotionalen eine notwendige sachliche Ebene zu liefern. Bleibt nur zu hoffen, dass dieses Buch vor allem jene lesen, die die aktuellen tierethischen Diskussionen und persönlichen Entscheidungen beispielsweise für ein fleischloses Leben und gegen industrielle Tierverwertung lediglich für eine Modeerscheinung halten. Aber den Menschen, die sich auf einer eher emotionalen Ebene im Rahmen individueller Moralvorstellungen für Tiere engagieren, dürfte dieses Buch wertvolle zusätzliche Denkanstöße liefern.
Marcel Sebastian: Streicheln oder Schlachten. Warum unser Verhältnis zu Tieren so kompliziert ist – und was das über uns sagt. Kösel 2022, Taschenbuch, 240 Seiten.
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