Buchvorstellung von Markus Bötefür
Längst haben sich vormals exotische, teilweise auch spleenige Titel (meist aus den Federn britischer oder amerikanischer Historiker) zu einem eigenen Genre in der geschichtswissenschaftlichen Publizistik gemausert und bescheren ihren Verfassern immer öfter überschwängliche Besprechungen in den Feuilletons großer Zeitungen sowie vordere Plätze auf den weltweiten Bestsellerlisten. Nach vielen Büchern über die menschliche Beziehung zu den unterschiedlichsten Haus- und Wildtieren, ist es daher kaum erstaunlich, wenn der kanadische Historiker Timothy Winegard auf gut 600 Seiten die Mensch-Mücke-Beziehung in der Weltgeschichte untersucht und dabei zu erstaunlichen Erkenntnissen gelangt.Die Mücke, eine narzisstische Kreatur
Winegard, von Hause aus Militärhistoriker, führt seine Leser auf eine „chronologische, stechwütige Reise durch die miteinander verwobene, gemeinsame Geschichte von Mensch und Mücke“. Diese Tour beginnt er strenggenommen aber schon viel früher, denn bereits auf dem menschenleeren Planeten hatten die Dinosaurier laut seiner Forschungen unter den Plagegeistern zu leiden und wurden von ihnen mit teils existenzbedrohenden Krankheiten infiziert. Was die unheilvolle Bedeutung dieser winzigen Lebewesen nach dem Aussterben der Riesenechsen im aktuellen Tierreich und in der Menschheitsgeschichte anbelangt, so stellt der an der Colorado Mesa University lehrende Winegard unmissverständlich klar: „Die Mücke ist nicht nur eine erstaunlich anpassungsfähige, sondern auch eine äußerst narzisstische Kreatur […] Ihr einziger Lebenszweck ist die Vermehrung der eigenen Spezies – und vielleicht das Töten von Menschen.“
Die Mücke als Lenker der Menschheitsgeschichte
In 19 Kapiteln beruft er sich dabei auf allerhand Fakten, die mitunter aufhorchen lassen und den Charakter des für uns Mitteleuropäer bislang nur ärgerlichen Insekts in einem ganz neuen und beängstigenden Licht erscheinen lassen. Der Leser erfährt u.a., dass der Saugrüssel der Mücke einen guten Teil zum Untergang des Weltreichs Alexanders des Großen beitrug und der amerikanische Unabhängigkeitskrieg von den rebellierenden Kolonisten nicht ohne tatkräftige Unterstützung der Malaria übertragenden Quälgeister hätte gewonnen werden können. Winegard konstatiert: „Die Stechmücke, ein zufälliger Akteur in der Geschichte, war der erste und gleichzeitig schlimmste Massenmörder, der auf dem amerikanischen Kontinent je sein Unwesen trieb.“ Und so scheut er sich auch nicht, historische Ereignisse mit biologischen Fakten in Verquickung zu setzen. Dies tut er beispielsweise, wenn er der Mücke als Überträger von Malaria eine tragende Rolle für den Verlauf der Kolonisierung Amerikas zubilligt, schließlich wäre ohne sie der Einsatz afrikanischer Sklaven fruchtlos geblieben, denn viele Menschen afrikanischer und südeuropäischer Abstammung sind Träger genetischer Mutationen wie jene, welche die Sichelzellenanämie verursachen und zugleich vor Malaria schützen. Amerikanische Ureinwohner haben solche Gene nicht und waren folglich dem von den spanischen Konquistadoren und ihren afrikanischen Sklaven eingeschleppten Malariamücken schutzlos ausgeliefert, weshalb die Mücke auch hier, wie an fast allen Kriegs- und Verdrängungsschauplätzen der Weltgeschichte, ein biologisches Kampfmittel gewesen sei.
Originell aber nicht immer kompetent
In diese Flut hochinteressanter, origineller und oft anhand historischer Zeugnisse belegter Informationen ergießen sich für kritische Leser aber auch die ein oder anderen Wermutstropfen. So beispielsweise, wenn er den, die römischen Legionen in malariaverseuchten Sümpfen bekämpfenden Germanen eine bewusste Taktik biologischer Kriegsführung andichtet.
Dass der Autor kein Naturwissenschaftler ist, fällt nur in wenigen, für Biologen und Mediziner dann aber frustrierenden, Passagen auf. Etwa dann, wenn er behauptet, Viren seien „Ansammlung von Molekülen und genetischen Verbindungen“ oder wenn Winegard den Reifeprozess von Malariaerregern als Mutationen bezeichnet. Alles in allem ist ihm jedoch ein originelles, unterhaltsames und lehrreiches Werk gelungen, aus dem vor allem eins klar wird: „Die Stechmücke begleitet unsere menschliche Reise auf ihrem Zickzackkurs ins Ungewisse und beeinflusst unseren Taumel durch die Zeiten auf geheimnisvolle, wenn nicht makabre Weise. Sie setzt historische Ereignisse miteinander in Bezug, die durch Raum, Epochen und Zeit bisweilen vollkommen voneinander isoliert erscheinen. Ihre Reichweite ist groß und verästelt.“
Lehrreich, unterhaltsam, kurios
Und so endet diese kuriose Biografie auch nicht in der Vergangenheit, sondern mit einer kritischen Würdigung des Philantro-Kapitalismus im Stile von Milliardären wie Bill Gates. Der heute, neben anderen Projekten, ein Drittel seines ungeheuren Vermögens zur Bekämpfung von Stechmücken übertragener Krankheiten investiert. Dieser Philantro-Kapitalismus habe mittlerweile ein ebenso erschreckendes Ausmaß angenommen, wie die 110 Billionen summender, schwirrender und stechender Kreaturen, denen allein im Jahr 2018 weltweit rund 830.000 Menschenleben zu Opfer fielen.
Das Buch ist wie geschaffen für den fächerübergreifenden Unterricht an den gymnasialen Oberstufen, denn es verbindet Geschichte, Biologie, Medizin, und Wirtschaftswissenschaften, ohne dabei oberlehrerhaft daherzukommen. Sollten die Vorlesungen Winegards ähnlich unterhaltsam sein, wie seine Ausführungen zur Mensch-Mücke-Beziehung, so sind seine Studenten und Studentinnen zu beneiden.
Timothy C. Winegard: Die Mücke. Das gefährlichste Tier der Welt und die Geschichte der Menschheit. TERRA MATER BOOKS 2020. Gebunden, 624 Seiten. ISBN-9783990550229
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen