Buchvorstellung von Markus Bötefür
Alle Primaten sind Affen, doch nicht alle Affen sind Primaten. Auf insgesamt 1072 Seiten ruft der Hamburger Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht uns eindringlich in Erinnerung, dass wir als Menschen zu den Affen zählen und keineswegs außerhalb der Evolution stehen. Als eine Tierart im momentan noch recht großen Spektrum der Biodiversität löscht der Mensch im Zeitalter des Anthropozän (als biologisch-geologisches Zeitalter des Menschen) täglich viele Tier- und Pflanzenarten unwiederbringlich aus und ist so für das sogenannte Sechste Massensterben verantwortlich, welches, so Glaubrecht, für die Zukunft des Lebens auf dem Planeten Erde verheerendere Folgen haben könnte als der vieldiskutierte Klimawandel.Evolutionärer Erfolg des Menschen als Grundlage seines Untergangs
Anders als viele Politik-, Geistes- und Wirtschaftswissenschaftler, die das Dilemma der modernen Welt aus unterschiedlichen politisch-sozialen Blickwinkeln bespiegeln, argumentiert Glaubrecht als Naturwissenschaftler mit der evolutionsbiologischen und somit auch genetisch festgeschriebenen Natur des Menschen, dessen Erfindungsreichtum und Pioniergeist ihn zur bislang erfolgreichsten Spezies gemacht haben. Diese Erfolgsgeschichte, ist nun aber dafür verantwortlich, dass die Spezies Homo sapiens die Natur und somit die Basis allen Lebens zerstört. Den einzigartigen Fortpflanzungs- und Verbreitungserfolg der aus Afrika stammenden Tierart Mensch und die heute nicht mehr übersehbare Überbevölkerung benennt Glaubrecht als Hauptgrund für die ökologische Katastrophe. Der evolutionäre Erfolg unserer Art verdrängt und vernichtet andere Arten und führt zwangsläufig auch zur Vernichtung des Homo sapiens, der ohne Biodiversität auf der Erde nicht existieren kann.
Menschengemachtes Artensterben und das Ende der Evolution
Deshalb, so Glaubrechts Botschaft, sei es höchste Zeit umzusteuern. Das sich beschleunigende Artensterben von Säugetieren, Reptilien, Vögeln, Fischen, Insekten und Pflanzen sowie der am Beginn vieler Nahrungsketten stehenden Mikroorganismen sei alarmierend. (Fachleute befürchten, dass bis zum Jahr 2050 rund zehn Prozent der Wirbeltierarten in den Regenwaldregionen ausgestorben sein werden.) Die immer kleinere Artenvielfalt führe unausweichlich zum Ende der Evolution. Genauer gesagt zur Einschränkung der Möglichkeiten der Evolution, denn mit jedem getöteten Individuum geht genetisches Material und somit biologische Vielfalt für immer verloren. Dieses Artensterben dieser Art kann nur so lange weitergehen, bis die Anzahl der überlebenden Individuen einer Art nicht mehr ausreicht, um sich zu reproduzieren und in der vom Homo sapiens drangsalierten Welt bestehen zu können.
Radikale Forderungen und Hoffnungen
Bei allem Pessimismus macht Glaubrecht aber auch Hoffnung für die Zukunft, denn einer seiner Vorschläge lautet, die Hälfte der Erde unter Naturschutz zu stellen und so dem Ende der Evolution Einhalt zu gebieten. Als Evolutionsbiologe weiß Glaubrecht bei aller mit dieser Idee einhergehenden Utopie auch, dass menschliche Fähigkeiten niemals unterschätzt werden dürfen, schließlich habe die Tierart Homo sapiens im Laufe ihrer Evolutionsgeschichte zahlreiche Krisen überlebt und es sogar vermocht, mit dem Anthropozän ein neues Kapitel in der Erdgeschichte aufzuschlagen und zu prägen.
Die Szenarien „Untergang“ und „Rettung“
Ob das Sechste Massenaussterben in der Erdgeschichte bereits angefangen hat oder kurz bevorsteht, ist wissenschaftlich umstritten und wird auch von Matthias Glaubrecht nicht eindeutig beantwortet. Stattdessen wählt er das Jahr 2062, um Rückschau auf zwei mögliche Entwicklungen zu halten. Beim Szenario „Untergang“ würden für die Nahrungsmittelerzeugung Regenwälder gerodet, Extremwetterereignisse zunehmen und es stünden auf dem überbevölkerten Planeten zu wenig Nahrung und Wasser für die in Megastädten lebenden Massen zur Verfügung, die sich dann nicht nur über die vertanen Chancen ihrer Vorfahren wundern, sondern in Hungersnöten und Kriegen zu Milliarden sterben würden. Im Szenario „Rettung“ hingegen würde eine Wirtschafts- und Agrarwende stattgefunden haben, die mit drastischen Geburtenkontrollen und einer globalen Lastenverteilung dafür gesorgt hätte, dass große Flächen des Planeten nicht von Menschen genutzt, sondern von anderen Tierarten bewohnt werden können.
Ein wichtiges, gutes und (zu) umfangreiches Buch
Matthias Glaubrecht ist ein wichtiges und gutes Buch gelungen. Mut zu Kürzungen hätte diesem starkleibigen und von Redundanzen geprägten Werk jedoch an vielen Stellen sehr gutgetan, denn dass das Zeitalter des Anthropozän in seiner augenblicklichen Evolutionsphase auch eine Epoche der elektronisch-digitalen Kurznachrichten ist, in der nur noch wenige Menschen längeren Texten folgen können und wollen, wurde im Eifer der dringenden Informationsübermittlung leider übersehen.
Matthias Glaubrecht: Das Ende der Evolution. Der Mensch und die Vernichtung der Arten. Bertelsmann 2019. Gebunden, 1072 Seiten. ISBN: 978-3-570-10241-1
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