Zufall oder Determinismus?
Und so beginnt Mark Maraun sein Buch mit der im Wesentlichen philosophischen Frage, ob die Evolution durch Zufall oder Determinismus bestimmt ist. Und welche Bedeutung diese Faktoren für unser Leben spielen. Genaugenommen, so der Autor, können die Naturwissenschaften diese Frage nicht zufriedenstellend beantworten. Es lässt sich lediglich feststellen, dass die extremen Positionen (alles Zufall vs. alles vorherbestimmt) ausgeschlossen werden können. Und nach einem Ausflug in die Welt der Religion und Spiritualität kommt Mark Maraun zu dem Schluss, dass wohl „nur in einem Universum, das sich zwischen Zufall und Determinismus befindet“ unser Handeln einen Sinn hat.
Abiotik, Biotik und Ressource
Doch natürlich gibt es für das Leben auch „objektive“ Faktoren und Maraun wäre kein Naturwissenschaftler, wenn er diese nicht ausführlich darstellen würde. Im Kapitel „Abiotik, Biotik und Ressource“ beschreibt er die Anpassung von Organismen an die unbelebte und belebte Natur, hinterfragt die landläufige Vorstellung von der Balance der Natur und diskutiert im Anschluss, immer an konkreten Beispielen, den Einfluss der abiotischen Faktoren wie Temperatur, Licht, Osmolarität, Säuregehalt, Sauerstoff und Kohlendioxyd. All diese Faktoren stellen Ressourcen dar und beeinflussen direkt oder indirekt die Reproduktion von Organismen, ohne die eine Evolution nicht stattfinden kann.
Natur ist Natur, nicht mehr und nicht weniger
Die Kapitelüberschrift „Biologismus: Ist die Natur gut oder böse“ dürfte wohl eher rhetorischer Natur sein. Denn „die Natur“ als Summe aller abiotischen und biotischen Falktoren betrachtet, hat natürlich keine Moral oder Ethik. Kulturgeschichtlich wird Moral und Ethik ohnehin ausschließlich Menschen zugeschrieben, gewissermaßen als Regulativ für das Zusammenleben egoistischer Individuen, deren Hauptinteresse der Zugang zu Ressourcen und der Fortpflanzung, also der Weitergabe der eigenen Gene ist. Und so räumt der Autor auch mit den Vorstellungen einer Natur als kooperativen Gesamtorganismus oder aber als brutal und kompromisslos auf. Es handelt sich kurz zusammengefasst um ein dynamisches System im individuellen und kollektiven Wettstreit um Ressourcen und das bedeutet auf den Menschen bezogen „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“. Und das hat Konsequenzen für den Umgang mit den existenziellen Fragen der Menschheit zu denen Klimawandel und Artensterben gehören.
Global Change und Politik
Das Kapitel Global Change und Politik beinhaltet nach Mark Marauns eigener Aussage „nicht viel Aufregendes“ und ist m.E. dennoch ein „must read“. Denn hier liefert der Autor nicht nur einen Abriss der Klimageschichte und ihrer Folgen, sondern erklärt anhand der Funktionsweise von Wissenschaft die Grenzen der Vorhersagen beispielsweise zum Klimawandel oder Fragen der Evolution, schlichtweg zur Zukunft. Doch rückblickend ist der menschengemachte Klimawandel und das anthropogene Artensterben wissenschaftlich unbestreitbar und damit die generelle Verantwortung des Menschen für seine existenzielle Zukunft evident. Das wiederum zieht zwangsläufig gesellschaftspolitische Fragen nach sich, die den Autor zur sogenannten Tragödie der Allmende führen. Deren Auswirkungen ist das dann folgende Kapitel gewidmet.
Theorien, Modelle, Ideologie
An dieser Stelle begibt sich der Autor auf wissenschaftlich unsicheres Terrain, denn seine Erklärung was die Tragödie der Allmende ist, ist vorsichtig formuliert ungenau bis irreführend. Aber auch die langwierigen Ausführungen zur Frage des echten und unechten Altruismus sind m.E. nur von bedingtem Nutzen, denn die Schlussfolgerungen, dass der individuelle Egoismus im Interesse der Gemeinschaft (und ihres Fortbestehens) institutionell begrenzt werden muss, bedarf einer solch leidenschaftlichen theoretischen Beweisführung nicht. Überhaupt, beginnend mit der liberalen Theorie aus dem 19. Jahrhundert zur Durchsetzung der Überführung von Gemein- in Privateigentum (Tragödie der Allmende) kommen nun vor allem theoretische Konstrukte und mathematische Modelle wie z.B. die „kin selection“, die die Bevorzugung von Verwandten oder Gruppenmitgliedern gegenüber der Allgemeinheit postuliert (abgeleitet aus dem biologischen Druck, unbedingt seine Gene weitergeben zu wollen), zum Tragen. Und so lese ich auch die folgenden Kapitel „Population und Demografie“ und „kin selection“ mit gemischten Gefühlen. Und das nicht etwa, weil ich den Schlussfolgerungen des Autors nicht weitestgehend zustimmen könnte, sondern weil die Grundlagen dazu für mich mehr Fragen als Antworten aufwerfen.
Meine Empfehlung
Meine Empfehlung für dieses Buch ist neben den interessanten und verständlich formulierten Ausführungen der naturwissenschaftlichen Kapitel übrigens gerade in dieser Widersprüchlichkeit begründet, die die Lesenden – wenn sie denn ernsthaft Gewinn aus der Lektüre schlagen möchten – zur Auseinandersetzung und zu eigenen Gedanken geradezu zwingt.
Mark Maraun: Alles ist Ökologie. Springer VS 2025. Broschur, 90 Seiten.
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