Marco Granata, Biologe und Naturautor aus dem norditalienischen Susatal, zieht für ein Jahr in die Stadt und entdeckt, nach ausgiebigem Fremdeln mit der Hektik, dem Lärm und dem Grau seiner neuen Lebensumgebung, die vielfältigen Ökosysteme und tierlichen Lebensräume inmitten der von Menschenhand geschaffenen Steinlandschaften. Schließlich ist er zum Forscher der Stadtökologie geworden und hat mit „Die verborgene Tierwelt unserer Städte“ einen städtischen Naturführer geschaffen.
Eine Schabe kommt selten allein
Es war sicher nicht der angenehmste Einstieg in die städtische Tierwelt, als der Naturbursche Granata mit einer toten Küchenschabe in seiner neuen Wohnung konfrontiert wurde. Der Autor reagierte zunächst wie andere Menschen auch: mit Ekel. Und so startete er eine Reinigungsoffensive in der Hoffnung, eine bevorstehende Invasion der uralten Spezies mit erstaunlichen Eigenschaften und Überlebensstrategien zu verhindern, vergeblich. Und so musste am Ende doch die chemische Keule her. Die erste war nicht die letzte Reinigungsaktion des leidenschaftlichen Biologen, denn da es ihm Anfangs schwerfiel, sich in das städtische Getümmel zu werfen, bildete sein Heim das erste städtische Biotop, das - nicht immer freiwillig - zu untersuchen er nicht müde wurde.
Die Habitate einer Wohnung
Keine Frage, die Zahl unserer häuslichen Mitbewohner ist groß und die wenigsten rufen bei den Menschen Begeisterung hervor. Und doch handelt es sich, ob nun Stechmücke, Bettwanze oder Silberfischchen um faszinierende und in einem intakten natürlichen Biotop wichtige Lebewesen, auch wenn sie Krankheiten übertragen können. In diesem Fall geht es aber nicht um natürliche Biotope und so leitet uns Granatas Naturführer mit seinen Tierbeschreibungen durch die einzelnen häuslichen Habitate wie Küche, Bad, Wohn- und Schlafzimmer. Dabei kommen auch Themen wie Evolution und Anpassung nicht zu kurz.
Überlebenskampf in den Häuserschluchten
Nicht freiwillig, sondern wegen der Kammerjäger macht Marco Granata seine ersten forschenden Schritte aus der Wohnung heraus – auf den Balkon. Der ist mit seinen Gliederfüßlern in der Blumenerde, den Schmetterlingen und städtischen Bestäubern gewissermaßen eine Übergangszone zur Außenwelt. Die wiederum ist deutlich komplexer als die Betonwüsten auf den ersten Blick erscheinen lassen. Man denke da nur an Ratten und Mäuse, Tauben oder diverse andere Vogelarten. Die Zusammensetzung der Stadtspezies ist in großem und ganzen überall recht gleich, jedenfalls was unsere Breiten betrifft. Doch gewisse Unterschiede sind trotzdem nicht von der Hand zu weisen, etwa wenn der Italiener die flinken Geckos erwähnt, deren städtische Existenz den mittel- und nordeuropäischen Leser schon ein wenig überrascht. Doch es sind nicht nur die einzelnen Spezies der wilden Tiere, die einen genaueren Blick auf unsere städtischen Mitbewohner lohnen.
Landflucht der Arten
Das Spannende an der diversen urbanen Tierwelt ist vor allem vor allem die Frage, was treibt die überhaupt in diesen unnatürlichen auf die menschliche Existenz optimierten Lebensraum? Da wäre zum einen das Nahrungsangebot aus Abfällen, das für jene Tiere interessant ist, die außerhalb der Städte aufgrund der intensiven Landwirtschaft kaum noch Nahrung finden. Da gibt es die sogenannten Kulturfolger wie bestimmte Rattenarten, die „schon immer“ aus den menschlichen Angewohnheiten ihren Vorteil gezogen haben. Oder aber die verwilderten Haustiere, Tauben beispielsweise, die außerhalb der Stadt keine Überlebenschance mehr haben. Oder die Turmfalken, für die die Häuserschluchten, in denen sich ihre Beutetiere tummeln wie ihr natürlicher Lebensraum wirken.
Ein Konglomerat von Kleinbiotopen
Doch die Stadt besteht ja nicht nur aus Beton. Da gibt es Parks, Gärten, Wasserläufe, mehr oder weniger regulierte Naturräume, Mikrobiotope mit ihrer jeweils ganz spezifischen Artenzusammensetzung, zu denen neben den allgegenwärtigen Vögeln auch Fische, Reptilien und Amphibien gehören. Und nicht zuletzt gehört auch die sogenannte dritte Landschaft zum urbanen Lebensraum, die Randbezirke, gewissermaßen Übergangszonen zwischen Stadt und Naturraum. Auch dieser Bereich ist außerordentlich divers, und kann zwischen lebensfeindlicher intensiver oder vielfältiger Kulturlandschaft, dichten Wäldern oder auch gigantischen Mülldeponien variieren. Der Urbane Raum scheint also wider Erwarten eine große Artenvielfalt zu entwickeln, so dass bereits die Vorstellung von der Stadt als neuer Biodiversitätshotspot oder als Arche Noah einer auf dem Land bedrohten Artenvielfalt die Runde macht. Doch in seinem Geleitwort zum Buch stellt Prof. Dr. Matthias Glaubrecht (Autor von: Das Ende der Evolution und Das stille Sterben der Natur), fest: „Stadtnatur ist in Wahrheit biologisch verarmte Reminiszenz jener Biodiversität, die uns verlorenzugehen droht.
Marco Granata: Die verborgene Tierwelt unserer Städte. Wie ich die Wildnis verließ und mich in der Stadt wiederfand. HIRZEL 2025. Geb. mit Schutzumschlag, 287 Seiten.
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