Samstag, 26. März 2022

Die Kultur der wilden Tiere

Wie Wale Familien gründen, Papageien Schönsein lernen und Schimpansen Frieden schließen

Kultur: Das ist ein Begriff, der per Definition ausschließlich dem Menschen zugeschrieben wird. Tiere, so die landläufige Meinung handelten in erster Linie instinktgesteuert, sind bestenfalls des Nachahmens, nicht aber des Verstehens, Adaptierens oder gar Planens. geschweige denn des sozialen Lernens fähig. Und für eingefleischte Athropozentristen sind selbst die wissenschaftlichen Nachweise von tierlichem Werkzeuggebrauch komplexer Kommunikation, Ausbildung spezieller Verhaltensweisen unterschiedlicher Tiergemeinschaften gleicher Arten und anderes mehr lediglich Ausdruck genetischer Determination, keinesfalls aber kulturellen Ursprungs. In seinem Buch präsentiert der Biologe Carl Safina in eindrucksvoller Weise einen für viele Leser völlig neuen Blick auf Evolution, Kultur und Gesellschaft, bei dem die nichtmenschlichen Tiergemeinschaften im Mittelpunkt stehen.

Eine neue Sicht auf Intelligenz, Kultur und Evolution

Immerhin, inzwischen wird insbesondere den „höheren“ Tieren ein gewisses Maß an Intelligenz zugestanden. So haben umfangreiche verhaltensbiologische Forschungen u.a. an Primaten ergeben, dass beispielsweise die kognitiven und mentalen Fähigkeiten von Schimpansen die eines etwa sechsjährigen (natürlich Menschen-) Kindes erreichen können. Aber kann eine Beurteilung tierischer Gemeinschaften mit dem Menschen als Maßstab überhaupt funktionieren?

Carl Safina versucht in seinem Buch den Leser von einer ganz anderen Seite an die Fragen von Intelligenz, Kultur und Evolution heranzuführen und begibt sich zu diesem Zweck nicht ins Labor, sondern in die jeweiligen Lebenswelten unserer nichtmenschlichen Mitbewohner.

Maritime Tierkulturen

Der erste Besuch führt unter dem Begriff Familien in elf Schritten in die Welt des Pottwals ein, jenes Lebewesens, dass den Menschen bis vor kurzem lediglich als Rohstoff- und Energielieferant bekannt war und dessen Verhalten bestenfalls zum Zwecke des Jagens und Tötens beobachtet wurde. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts war noch nicht einmal bekannt, dass die riesigen Meeressäuger über ein komplexes auf Lauten basierendes Kommunikationssystem verfügen. Dass die Wale in Clans und Familien mit jeweils eigenen Dialekten, organisiert sind und hinsichtlich Sozialverhaltens, Jagdtechniken, Reiserouten oder bevorzugte Aufenthaltsplätze echte kulturelle Traditionen entwickelt haben, einschließlich sozialen Lernens, hat sich noch kaum herumgesprochen. Carl Safina berichtet in seinem Buch über seine Erfahrungen u.a. bei der Begleitung einer Exkursion im Rahmen des Langzeit-Forschungsprojektes „Dominica Sperm Whale Project“, in dessen Rahmen die verschiedenen sozialen Pottwalgruppen in der Karibik über Jahrzehnte hinweg beobachtet werden.

Kulturbegriff auf dem Prüfstand

Nicht nur Safina sondern auch der/die ihn begleitende LeserIn kommt aus dem Staunen kaum heraus, wenn er vom Gründer des Projektes, Shane Gero gewissermaßen live und vor Ort in die Einzelheiten und die Bedeutung der Ergebnisse der Forschungsarbeit eingeführt wird. Dabei macht der Autor selbst einen Erkenntnisprozess durch und gerät ein ums andere male ins Grübeln, weil die Schlussfolgerungen, die sich aus den Beobachtungen ergeben, ganze Weltbilder und auch das menschliche Selbstverständnis in Frage stellen. Der/die LeserIn macht bei der Lektüre selbst einen spannenden Prozess durch, der ihn vom klassischen Whalewatching, über die Erkenntnis, dass es sich bei den Walen um eigenständige Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Charakteren, Selbstbewusstsein und sozial erlernten Fähigkeiten handelt bis hin zu der Erfahrung, dass in den Tiefen der Ozeane tierliche Kulturen leben, die sich allein aufgrund der Anpassung an die maritime Lebensumwelt menschlichen Maßstäben entziehen.

Schönheit als Evolutionskonzept

Ähnlich geht es in Kapitel 2 zu, dessen Oberbegriff „Schönheit“ in Zusammenhang mit tierlicher Kultur und ihrer Bedeutung für die Evolution in sieben Kapiteln entwickelt wird. Die Protagonisten dieser Betrachtungen sind vor allem knallbunte Papageien, die Hellroten Aras, die der Autor im Tambopata-Forschungszentrum im peruanischen Amazonasgebiet kennenlernt. Eines der faszinierenden Ergebnisse dieses Kapitels besteht in der Feststellung, dass sich die Natur auch hinsichtlich Zweckmäßigkeit nicht unbedingt an menschlichen Vorstellungen orientiert und Evolution bedeutend mehr ist, als „survival oft he fittest“. Am Ende seiner Ausführungen kommt der Autor jedenfalls zu dem nicht einmal unplausiblen Schluss, dass Schönheit ein in der Natur wohl universelles Evolutionskonzept zu sein scheint, dass artenübergreifend funktioniert und im gewissen Sinne ein verbindendes Element aller tierlichen Kulturen (also auch der Spezies Mensch) darstellt.

Die Kulturtechnik des Frieden Schließens

Unter dem Schlagwort „Frieden“ gelangt der/die LeserIn schließlich auf den „Planeten der Affen“, genauer gesagt in die Welt des dem Homo sapiens nächsten Verwandten. Die Primatenforscherin Cat Hobaiter nimmt Carl Safina mit zu den Schimpansengruppen der Bonongo Conservation Field Station in Uganda. Wer wie Safina erstmals mit der Kultur der wilden Schimpansen konfrontiert wird, dem präsentieren sich unsere nächsten Verwandten nicht gerade von der besten Seite. Immerhin sind Schimpansen neben den Menschen die einzigen Tiere, die Mitglieder ihrer eigenen Gemeinschaft töten. Mit dem Titel „Friede“ scheint der Autor vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der gewalttätigen Spezies auf den ersten Blick wohl ein wenig danebengegriffen zu haben. Herrschsucht und Machtgier, Intrigen und strategische Karriereplanungen, Tricksereien, Streit, aber auch Versöhnung sind vor allem männlicher Teil der Schimpansenkultur. Aber auch hier findet im Laufe der 11 Friedenskapitel eine Entwicklung statt. Cat Hobaiter vermittelt dem Autor wie die Affen kommunizieren, wie sie lernen, wie sie interagieren, hilft ihm, sowohl Gewaltausbrüche als auch die Mechanismen und Kulturtechniken des Frieden Schließens einzuordnen und zu verstehen.

Ein beeindruckendes Buch

„Die Kultur der wilden Tiere“ ist ein außergewöhnliches, ein packendes aufwühlendes, erkenntnisreiches und beeindruckendes Buch. Nicht zuletzt, weil der Autor es versteht, die eigenen Beobachtungen, Überlegungen, Erkenntnisse und Gedanken in den Kopf des/der LeserIn zu pflanzen und hier weitere eigenständige Fragen und Überlegungen zu initiieren. Dabei kommt er ohne irgendwelche moralischen Keulen oder gar Indianerweisheiten aus. Es sind die Erkenntnisse aus teilweise innovativen Forschungsprojekten, die neben den von Carl Safina zusätzlich eingebrachten Beispielen von Kulturleistungen weiterer Tierarten beeindrucken und in ihrer Gesamtheit auch LeserInnen, die sich mit ähnlichen Fragen bereits eigenständig auseinandergesetzt haben, überraschen und neue Perspektiven aufzeigen.

Carl Safina: Die Kultur der wilden Tiere. Wie Wale Familien gründen, Papageien Schönsein lernen und Schimpansen Frieden schließen. C.H. Beck 2022. Gebunden mit Schutzumschlag, 427 Seiten.

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