Freitag, 15. Oktober 2021

Flussnatur

Ein Buch über einen Lebensraum im ständigen Wandel

Dass es in unseren Breiten kaum noch Gewässer gibt, die nicht vom Menschen in irgendeiner Hinsicht „kontrolliert“, beeinflusst oder reguliert wurden und werden, steht außer Frage. Das gilt selbstverständlich auch für Flüsse, deren eigentliche Natur uns inzwischen fremd geworden ist. Der für seine provokanten Thesen bekannte Josef Helmut Reichholf bringt seinen Lesern die Flussnatur in seinen unzähligen Facetten näher und setzt dabei in seinem Vorwort – wie könnte es bei einer Neuerscheinung vom September 2021 anders sein – bei der Flutkatastrophe vom Juli 2021 an.

Menschengemachte Katastrophen

Dass der Klimawandel mit seinen Extremwetterereignissen bei solchen Katastrophen eine Rolle spielt, bestreitet der Gewässerökologe nicht, ursächlich, so die (nicht ganz neue) Erkenntnis, sei er jedoch nicht. Vielmehr seien es die menschlichen Eingriffe, angefangen von der Flächenversiegelung, über die Flussregulierung (Kanalisierung) bis hin zu Maßnahmen zur sogenannten „Abflussertüchtigung“ und Entwässerung von Wiesen und Sümpfen. Fließgewässer seien eben mehr als ein Ableitungssystem von Wasser oder „ein Mittel für den Transport schwerer Waren“ und auch für Freizeit und Unterhaltung seien sie nicht geschaffen. Nutzbar, so die Kernaussage des Autors seien sie durchaus, vorausgesetzt man verstehe und berücksichtige ihr komplexes hydrologisches und ökologisches Wesen.

Flussidylle und Erdgeschichte

Mit einer Beschaulichen Betrachtung des „Wildflusses“ Isar an einem Sommerabend, nachdem die erholungssuchenden Großstädter mit ihren Booten von der Isar verschwunden sind und wieder Ruhe in die Natur eingekehrt ist, führt der Autor seine LeserInnen in das Thema seines Buches ein. Quakende Entenfamilien, ein wenig müde zwitschernde Vögel oder die tanzenden Schwärme der Eintagsfliegen in der Abenddämmerung, eine vergängliche Idylle, nicht nur wegen der menschlichen Eingriffe, deren Ziel Beständigkeit, sondern auch der Flussnatur geschuldet, deren Kern Veränderung ist. Und was das bedeutet, erläutert Reichholf in den folgenden Kapiteln, in denen es nicht nur um geologische und erdgeschichtliche, sondern auch um ökologische Aspekte geht.

Hydrologie und Ökologie in Wechselwirkung

Diese ökologischen Aspekte betreffen weitaus mehr als nur das jeweilige Gewässer. Da geht es um die Entwicklungen und Veränderungen der Strukturen von Auenwäldern, den Lebenszyklus von Seen (beispielsweise als abgetrennte Nebenarme von Flüssen), den Flusscharakter von Stauseen und nicht zuletzt um die Flora und Fauna, deren Lebensmittelpunkt Flüsse und ihre Einzugsgebiete darstellen. Natürliche Anpassung an spezielle Bedingungen, Gewässerproduktivität und ihre Abhängigkeit von Fließgeschwindigkeiten aber auch von menschenverursachten Einträgen und Regulierungen, den/die LeserIn erwartet eine unglaubliche Fülle von Informationen und Zusammenhängen. Die sind jeweils nachvollziehbar und verständlich beschrieben und hinterlassen beim Leser allein schon deshalb einen nachhaltigen Eindruck, weil der nach der Lektüre des Buches sicherlich mit anderen Augen auf „seinen“ Fluss, Bach oder See blickt.

Finger in der Wund

Dass Josef H. Reichholf mit seinen Aussagen nicht unumstritten ist, versteht sich nahezu von selbst. Schließlich stellt er u.a. die Privilegien von Hobbyjagd, -fischerei und Landwirtschaft und auch so manch andere landläufige Naturschutzmeinung massiv in Frage. So problematisiert unter anderem er die Tatsache, dass Jagd- und Fischereirecht faktisch über dem Naturschutz steht und dass die Landwirtschaft Gift und Gülle in Grundwasser und Gewässer eintragen dürfen, ohne hierfür – wie jeder andere Bürger und jedes andere Unternehmen – wenigstens einen Ausgleich für die Reinigung und Trinkwasseraufbereitung leisten zu müssen. Dass er mächtige Lobbyverbände gegen sich aufbringt, ist damit geradezu programmiert.

Alles in allem viel Stoff zum Nachdenken und zum Diskutieren.

Josef H. Reichholf: Flussnatur. Ein faszinierender Lebensraum im Wandel. Oekom 2021. Hardcover 302 Seiten.

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