Dienstag, 29. Dezember 2020

Wie Tiere hämmern, bohren, streichen

Werkzeuggebrauch und Bandbreite der Kultur bei Tier und Mensch

Seit sich der Mensch für etwas Besonderes gegenüber Natur und Tier hält, sucht er für genau dieses Selbstverständnis nach Belegen. Da wird neben Philosophie oder Religion auch die Naturwissenschaft bemüht, um die Unterschiede herauszuarbeiten, die die hemmungslose Ausbeutung der lebendigen und toten Welt durch den Menschen rechtfertigen. Bei genauerer Betrachtung aber fällt ein Argumentationsbollwerk nach dem anderen, so auch die lange vorherrschende Auffassung, dass der bewusste Gebrauch von Werkzeugen den Unterschied zwischen der Tierwelt und dem Kulturwesen Mensch ausmacht. Peter-René Becker räumt in seinem Buch „Wie Tiere hämmern, bohren, streichen“ mit diesem Vorurteil auf.

Was ist ein Werkzeug?

Über 2800 Publikationen zum Werkzeuggebrauch verschiedener Tierarten und früher Menschenformen hat der Biologe und Ethnologe Peter-René Becker ausgewertet, um seine vergleichende Studie der Entstehung und Evolution von Werkzeugverhalten und möglichen Kulturen bei Tier und Mensch zu erarbeiten. Zum Verständnis des Buches ganz wichtig: Die im Kapitel „Von Werkzeugen und Augenzeugen“ vorgenommene Definition bzw. Abgrenzung von bewusstem Werkzeuggebrauch und zufälliger Nutzung von Objekten. Denn Werkzeuggebrauch erfordert zielgerichteten Einsatz und Abstraktion. Interessant hierbei ist, dass diese Eigenschaften nicht nur – wie wir in der Regel erwarten – unseren nächsten Verwandten, den Primaten zuzuschreiben sind. Nicht einmal die Herstellung von Werkzeugen ist auf die vermeintlich besonders intelligenten „Herrentiere“ beschränkt. Mancher Werkzeuggebrauch wurde, neueren archäologischen Erkenntnissen zufolge sogar fälschlicherweise frühen Menschen zugeordnet.

Tierische Kultur

Es ist also nicht wirklich die doch recht umfangreiche Auflistung der Beobachtungen von Werkzeuggebrauch in der Tierwelt, die das Buch so interessant macht. Es ist zum einen die Dimension, die den Eindruck entstehen lässt, dass Werkzeuggebrauch eher die Regel als die Ausnahme nicht nur in der höheren Tierwelt darstellt. Und es ist die evolutionsgeschichtliche Einordnung der Beobachtungen, die belegen, dass die Ausbildung von Kultur nicht auf die „Krönung der Schöpfung“ beschränkt ist. Insofern weist der Untertitel des Buches „Werkzeuggebrauch und Bandbreite der Kultur bei Tier und Mensch“ wesentlich besser auf die zentralen Aussagen und Erkenntnisse des Buches hin, als der vielleicht werbewirksamere aber oberflächlichere Haupttitel. 1993 wurde die Arbeit unter dem Titel „Werkzeuggebrauch im Tierreich“ als Hochschulschrift erstmals publiziert. Der neue Untertitel, der deutlich größere Umfang und nicht zuletzt die Aktualität der Quellen zeigen, dass die nun erschienene 2. Auflage eine umfassende Überarbeitung und Aktualisierung erfahren hat.

Ein interessantes Buch, das einen weiteren spannenden Beitrag zum relativ jungen Forschungsgebiet der animal studies liefert und den Leser in vielerlei Hinsicht zum Nachdenken anregt.

Peter-René Becker: Wie Tiere hämmern, bohren, streichen. Werkzeuggebrauch und Bandbreite der Kultur bei Tier und Mensch. 2. überarbeitete Auflage 2020, Hirzel Verlag. Hardcover, 232 Seiten.

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