Freitag, 25. September 2020

Die Vogel-WG

Die Heinroths, ihre 1000 Vögel und die Anfänge der Verhaltensforschung

Es waren die Teilnahme an und die Auswertung der unglückseligen I. Deutschen Südsee-Expedition 1900/1901, die den Zoologen Oskar Heinroth in Fachkreisen bekannt machte. Denn Heinroth brachte in die damalige Naturforschung, die vor allem im Sammeln, Präparieren und Beschreiben bestand ein letztendlich revolutionäres Element ein: Die Beobachtung der lebenden Spezies. Mit seinen auf den ersten Blick skurril wirkenden Forschungsmethoden legte er den Grundstein für die vergleichende Verhaltensforschung und damit die moderne Verhaltensbiologie.

Mauserstudien und Handaufzuchten

Schon Heinroths Lebensleistung allein ist außerordentlich beeindruckend. 1871 geboren, promovierte er 1895 in Medizin. Neben seinem Studium widmete er sich der Jagd und Beobachtung von Vögeln und Reptilien und dokumentierte damit bereits seine eigentlichen Interessen. Folgerichtig engagierte er sich während seiner Militärzeit ehrenamtlich im Zoo und ab 1896 arbeitete er freiwillig im Berliner Zoologischen Garten und Zoologischen Museum wo er die Vogelsammlung betreute, Mauserstudien betrieb und mit den Studien an seinen Handaufzuchten begann. Nach seiner Rückkehr von der I. Deutschen Südsee-Expedition erhielt er die Stelle des Direktoralassistenten des Zoodirektors.

Mehr als nur ein Entenheinrich

Zusammen mit seiner Ehefrau Magdalena, die seine Leidenschaft der Verhaltensforschung an Vögeln teilte, organisierte er 1910 den 5. Internationalen Ornithologen-Kongress in Berlin. Mit seinem Vortrag „Beiträge zur Biologie, namentlich Ethologie und Psychologie der Anatiden“ setzte der schon von seinen Mitschülern als „Entenheinrich“ titulierte Forscher einen – wie es die Autoren den Buches „Die Vogel-WG“ bezeichnen – Startpunkt in der Verhaltensforschung. Die berufliche Beschäftigung mit den Vögeln endete mit dem Auftrag des Berliner Zoodirektors, ein Aquarium zu bauen, ein Gebäude, in dem alle Tiere mit Ausnahme von Vögeln und Säugern untergebracht wurden. Das Ergebnis: Die hinsichtlich Tierhaltung und Didaktik damals modernste Einrichtung dieser Art, der Heinroth dreißig Jahre lang als Direktor vorstand.

Zerstörung und Auferstehung eines Lebenswerkes

Als wäre die Arbeitsbelastung in Zoo und Aquarium nicht genug, hatte es sich Heinroth zusammen mit seiner Ehefrauen zur Aufgabe gemacht, in der eigenen Wohnung nacheinander alle mitteleuropäischen Vogelarten vom Kranich bis zum Goldhähnchen aufzuziehen und ihr Verhalten zu beobachten, schriftlich und fotografisch zu dokumentieren und zu vergleichen. Ein gigantisches Unterfangen, das am Ende in dem geradezu epochalen Werk „Die Vögel Mitteleuropas“ (publiziert von 1923 – 1933) mündete. Nach Magdalenas Tod heiratete Heinroth die Zoologin Katharina Berger, mit der zusammen er das Taubenprojekt ins Leben rief bei dem es um detaillierte Verhaltensstudien an einer Vogelart ging. Nachdem Heinroth 1945 nach entbehrungsreichen Kriegsjahren und der völligen Zerstörung seiner Lebenswerkes, des Aquariums starb, führte Katharina sein Vermächtnis weiter und baute in der Nachkriegszeit als Zoodirektorin den Berliner Zoo und Aquarium wieder auf.

Die Vögel Mitteleuropas

Der biographische Teil des Buches vermittelt dem Leser viel über die Persönlichkeit und Denkweise des Forschers. Zudem faszinieren die historischen und wissenschaftsgeschichtlichen Hintergründe. Einen lebendigen Eindruck von Oskar und Magdalena Heinroths Art der Vogel-Verhaltensforschung vermitteln die Auszüge und Fotos aus „Die Vögel Mitteleuropas – in allen Lebens- und Entwicklungsstufen photographisch aufgenommen und in ihrem Seelenleben bei der Aufzucht vom Ei ab beobachtet von Dr. Oskar und Frau Magdalena Heinroth“. Immerhin, rund 1000 Vogeljungen haben die Forscher im Laufe von 30 Jahren in ihrer Wohnung aufgezogen. Und so umfassen die vier großformatigen Bände mit ihrer ausführlichen Beschreibung von über 250 Vogelarten 938 Seiten Text und mehr als 4040 Fotografien. Von den Autoren der Vogel-WG sprachlich und systematisch ein wenig überarbeitet präsentieren sich dem Leser mit der subjektiven Auswahl von Texten und Bildern nicht nur faszinierende Einsichten in die Verhaltenspsychologie der Vögel. Auch die Zuneigung, die die Heinroths trotz aller gebotenen wissenschaftlichen Distanz ihren Zöglingen entgegenbrachten wird hier deutlich.

Fazit: Ein lesenswertes Buch, das mit den Heinroths Persönlichkeiten und ihre Arbeit vorstellt, deren wissenschaftliche Bedeutung in der Öffentlichkeit fälschlicherweise eher im Schatten von Forschern wie Konrad Lorenz oder Erwin Stresemann stehen.

Karl Schulze-Hagen, Gabriele Kaiser: Die Vogel-WG. Die Heinroths, ihre 1000 Vögel und die Anfänge der Verhaltensforschung. Knesebeck 2020. Hardcover, 271 Seiten.

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