Unsere kollektive Verantwortung
Auf der Basis des in ihrem im Buch vorgestellten Fähigkeitenansatzes möchte die amerikanische Geisteswissenschaftlerin Martha Nussbaum eine philosophische Theorie vorlegen, „die auf einer sachgemäßen Sichtweise des Lebens der Tiere beruht und den Recht kompetente Empfehlungen gibt.“ Hintergrund dieses Vorhabens ist die Tatsache, dass heute kein nichtmenschliches Tier mehr der menschlichen Herrschaft entkommt und der Mensch damit die moralische Verpflichtung und kollektive Verantwortung zum Schutz der Tiere hat. Nussbaums Anspruch ist dabei durchaus ambitioniert, denn es geht ihr darum, einen universellen Ansatz für die Position des Menschen gegenüber den nichtmenschlichen Tieren zu entwickeln.Der Mensch und das Tier
Bereits seit der Antike philosophieren die Menschen über ihr Verhältnis zu den Tieren. Dabei geht es immer auch um die rechtliche und politische Einordnung. Welche Rechte können, dürfen, müssen den nichtmenschlichen Tieren zugestanden werden und wie sollte sich dies in der politischen Ausformung darstellen. Im Ersten Teil ihrer Ausführungen befasst sich Martha Nussbaum mit eben diesen historischen Konzepten, die schwerpunktmäßig aus anthropozentrischer Sicht entwickelt wurden. So beschreibt die Autorin den „Uns-so-ähnlich“-Ansatz, der den nichtmenschlichen Tieren umso mehr Rechte und Schutz einzuräumen bereit ist, je ähnlicher sie den Menschen sind. Die Utilitaristen des 18. Jahrhunderts wiederum begründen den Rechts- und Schutzstatus eines nichtmenschlichen Tieres vom unterstellten Grad ihrer Leidensfähigkeit und der Ansatz der amerikanischen Philosophin Christine Korsgaard postuliert, dass alle empfindungsfähigen Tiere als Selbstzweck behandelt werden müssen.
Zum Zusammenleben menschlicher und nichtmenschlicher Tiere
Für Martha Nussbaum geht jedoch auch Korsgaards Ansatz nicht weit genug, denn auch hier nimmt immer noch der Mensch eine Sonderrolle gegenüber dem Rest der Tierwelt ein. Und so erarbeitet sie aus den jeweils positiven Aspekten der als mangelhaft erkannten Ansätze und dem vom indischen Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen und ihr entwickelten Fähigkeitenansatz, ihre Position zum Thema „Gerechtigkeit für Tiere“. Ursprünglich diente der Fähigkeitenansatz als Konzept, zur Darstellung und Messung der individuellen und gesellschaftlichen (menschlichen) Wohlfahrt, mit ihrer Weiterentwicklung hebt sie nun die anthropozentrische Ausrichtung des Wohlfahrts- und Gerechtigkeitsansatzes auf und überträgt ihn, nicht ohne gewisse Schwierigkeiten im Detail, auch auf die nichtmenschlichen Tiere. Generell geht Nussbaums Ansatz davon aus, dass „strebenden Lebewesen eine Chance gegeben werden muss, sich vollständig zu entwickeln und zu gedeihen.“ Und zur Voraussetzung für das Gedeihen gehören unter anderem Gesundheit und körperliche Unversehrtheit, den Gebrauch der eigenen Sinne zu entwickeln, das Leben zu planen und in sozialen Zusammenhängen zu stehen und nicht zuletzt die eigene Umwelt in zentralen Aspekten zu kontrollieren.
Grundrechte für alle Tiere
Mit diesem umfassenden Rechtekatalog, der individuenspezifisch differenziert und konkretisiert werden muss, wird jedem einzelnen Lebewesen eine Würde zugesprochen, die vom Recht und der Politik respektiert werden müssen. Im Klartext heißt dies, dass die Grundrechte auf Freiheit, Selbstbestimmung und freie Persönlichkeitsentfaltung, die wir für uns als Menschen in Anspruch nehmen in gleicher Weise auch auf nichtmenschliche Tiere angewendet und gesetzlich und politisch durchgesetzt werden müssen. Sicherlich ein wenig grob zusammengefasst, läuft der Ansatz auf die Aussage hinaus: „Vor dem Gesetz sind alle (empfindsamen) Lebewesen gleich“. Damit, so die Überzeugung der Autorin verlässt dieses ethische Konzept die anthropozentrische Ausrichtung. Doch wie immer liegen die eigentlichen Probleme im Detail. So stehen die jeweiligen Entfaltungsrechte der unterschiedlichen Spezies, ihre Ansprüche an Lebens- und Umweltbedingungen oft genug im Gegensatz zueinander und müssen letztendlich in jedem Einzelfall neu ausgehandelt werden. Und auch die Erkenntnisse über die intellektuellen, emotionalen, sozialen oder kulturellen Fähigkeiten und Bedürfnisse der Lebewesen dieser Welt sind derzeit noch mehr als begrenzt, so dass die Grenzen der Spezies, die in das Gerechtigkeitskonzept einbezogen werden müssen, wohl fließend und ständiger Veränderung unterworfen sein dürften.
Die Grenzen der Neutralität
So begrüßenswert der Fähigkeitenansatz (oder auch Befähigungsansatz) als grundsätzliche ethisch-moralische Leitlinie im Umgang mit den menschlichen und nichtmenschlichen Tieren auch ist, gelegentlich lugt dann eben doch ein latent anthropozentrischer Blickwinkel durch das philosophische Gewebe. Etwa wenn Nussbaum aus der Tatsache, dass der Mensch nun einmal alle Winkel dieser Erde beherrscht, ableitet, dass er die moralische Verpflichtung habe, gewissermaßen auch das „wilde“ tierliche Leben zum oben formulierten Recht zu verhelfen. Einfach in Ruhe lassen, so die Autorin, ist jedenfalls keine Option. Und auch der Umgang mit Haus- und Nutztieren ist jedenfalls keine einfache Angelegenheit, denn auch wenn die tierlichen Individuen ein Recht auf eine eigene Interessenvertretung erhalten sollen, so wird es - solange es Haustiere gibt - doch immer der Mensch sein, der deren Interessen interpretiert.
Wichtige Lektüre
Das Buch ist zweifellos ein interessanter, notwendiger und relativ weitgehender Ansatz für die Diskussion um die Gerechtigkeit für Tiere und das Begreifen unserer kollektiven Verantwortung, diese Umzusetzen und vor allem dafür, Tiere als eigenständige Persönlichkeiten auch im Sinne unseres Rechtssystems zu begreifen. Es birgt aber gleichzeitig eine Menge Diskussionsbedarf und zumindest in meinen Augen auch gewisse Ungereimtheiten, die aber der/die Leserin des Buches gerne selbst herausfinden und zwecks eigener Positionierung zu durchdringen versuchen darf.
Martha Nussbaum: Gerechtigkeit für Tiere. Unsere kollektive Verantwortung. wbgTheiss 2023. Gebunden mit Schutzumschlag, 415 Seiten.
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