im Rahmen der evolutionären Anpassung
an unterschiedlichste Lebensbereiche und -bedingungen haben die Vögel
eine Vielzahl von Lebensformen entwickelt. Derzeit sind rund 10.000
lebende Vogelarten bekannt. Jede von ihnen füllt eine mehr oder
weniger große ökologische Nische und verfolgt eine eigenständige
Überlebensstrategie, die sich nicht nur im äußeren
Erscheinungsbild sondern auch in der Vielfalt des artenspezifischen
Sozialverhaltens niederschlägt. Der Ornithologe Walter A. Sontag
führt seine Leser in die faszinierende Welt der artspezifischen
Überlebensstrategien und geht dabei noch einen Schritt weiter, indem
er feststellt, das selbst ein artenspezifisches Verhalten eine
erstaunliche Vielfalt an individuellen Ausprägungen hat.
Was macht einen Vogel zum Vogel
Zunächst befasst sich Sontag
allerdings mit dem „Vogel an sich“ und allein die Frage „Was
macht einen Vogel zum Vogel“ belegt, dass der Autor den Leser im
Laufe seines Buches immer wieder zu überraschen versteht. Denn weder
Federkleid noch Schnabel noch Flugfähigkeit noch das mit Kalkschalen
bewehrte Ei sind Alleinstellungsmerkmale der Vögel. Ähnlich
schwierig – aber auch das kein Alleinstellungsmerkmal der Vögel –
ist die optische Bestimmung der Arten. Die Vogelwelt ist in ihrem
Erscheinungsbild nämlich nicht nur außerordentlich vielfältig,
sondern sich zum Teil auch fast ununterscheidbar ähnlich. Für den
Vogelfreund ist es jedenfalls eine echte Herausforderung,
beispielsweise die verschiedenen Arten der Graumeisen zuverlässig
voneinander zu unterscheiden. Wie aber erkennen sich etwa die
Goldhähnchen- oder Starenarten untereinander, wie verhindert die
Natur Mischverpaarungen von äußerlich fast identischen Arten im
gleichen Lebensraum? Allein dies ein hochkomplexes Thema, bei dem
nicht nur biologische Faktoren, sondern auch Gesang und Balzrituale
eine große Rolle spielen.
Brutparasitismus und andere
„Unarten“
Es wäre vermessen, im Rahmen dieser
Buchvorstellung das ganze inhaltliche Spektrum der Publikation
wiedergeben zu wollen. Beispielhaft herausgreifen möchte ich an
dieser Stelle den Aspekt des Brutparasitismus. Da geht es sowohl real
als auch im übertragenen Sinne um das legendäre Kuckucksei. Denn
der Kuckuck ist nicht der einzige Vogel, der mal mit mehr, mal mit
weniger Erfolg anderen Arten das Geschäft des Ausbrütens und der
Aufzucht seiner Jungen überlässt und dabei erstaunliche Tricks
anwendet. So wachsen etwa die Nachkommen der afrikanischen
Witwenvögel in Nestern bestimmter Prachtfinkenarten auf und nicht
nur manche Starendame brütet ins eigene Gelege eingeschleuste Eier
von Artgenossinnen aus. Zugegeben, die Angewohnheiten des Kuckucks
sind brutal, aber es gibt auch Abwehrstrategien der potenziellen
Opfer. Und so hat es die Evolution mit sich gebracht, dass sowohl der
Kuckuck als auch die „Gastarten“ jeweils fein aufeinander
abgestimmte Arsenale zur Sicherung ihrer Fortpflanzung entwickelt
haben. Bei Kuckuck beginnt das übrigens nicht erst mit der
Vernichtung der Gastbrut durch das Kuckucksjunge, sondern bereits vor
der Eiablage im Körper der Mutter.
Die wilde Vogelwelt aus neuen
Perspektiven betrachtet
Der Leser und Vogelfreund taucht bei
der Lektüre tief in die wilde Welt der Vögel ein. Er lernt etwas
über komplexe inner- und zwischenartliche Sozialstrukturen, über
Balz- und Reproduktionsverhalten, über die Sprache der Vögel, über
ihre faszinierenden Sinne und Fähigkeiten und immer wieder über
ihre Individualität. Spannend auch, dass die so zerbrechlich und
fröhlich wirkenden Flattermänner – es sind immerhin die kleinen
„Wald- und Wiesen“-Pieper, die der Autor hier präsentiert –
außerordentlich robuste Gesellen mit erstaunlichem Gewalt- aber auch
intellektuellem Potenzial sind, zumindest dann, wenn es um die
Fortpflanzung geht.
Und nicht zuletzt darf ja das Thema
Mensch und Tier und am Ende Artensterben nicht fehlen. Auch hier
wieder spannende und überraschende Perspektiven und Erkenntnisse.
Nach der Lektüre dieses Buches nimmt der Leser die zwitschernde Welt
in Stadt, Land und Garten mit anderen Augen wahr.
Walter A. Sontag: Das wilde Leben
der Vögel. C.H.Beck 2020, Gebunden mit Schutzumschlag 240
Seiten.
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