Sonntag, 26. April 2020

Das wilde Leben der Vögel

im Rahmen der evolutionären Anpassung an unterschiedlichste Lebensbereiche und -bedingungen haben die Vögel eine Vielzahl von Lebensformen entwickelt. Derzeit sind rund 10.000 lebende Vogelarten bekannt. Jede von ihnen füllt eine mehr oder weniger große ökologische Nische und verfolgt eine eigenständige Überlebensstrategie, die sich nicht nur im äußeren Erscheinungsbild sondern auch in der Vielfalt des artenspezifischen Sozialverhaltens niederschlägt. Der Ornithologe Walter A. Sontag führt seine Leser in die faszinierende Welt der artspezifischen Überlebensstrategien und geht dabei noch einen Schritt weiter, indem er feststellt, das selbst ein artenspezifisches Verhalten eine erstaunliche Vielfalt an individuellen Ausprägungen hat.

Was macht einen Vogel zum Vogel

Zunächst befasst sich Sontag allerdings mit dem „Vogel an sich“ und allein die Frage „Was macht einen Vogel zum Vogel“ belegt, dass der Autor den Leser im Laufe seines Buches immer wieder zu überraschen versteht. Denn weder Federkleid noch Schnabel noch Flugfähigkeit noch das mit Kalkschalen bewehrte Ei sind Alleinstellungsmerkmale der Vögel. Ähnlich schwierig – aber auch das kein Alleinstellungsmerkmal der Vögel – ist die optische Bestimmung der Arten. Die Vogelwelt ist in ihrem Erscheinungsbild nämlich nicht nur außerordentlich vielfältig, sondern sich zum Teil auch fast ununterscheidbar ähnlich. Für den Vogelfreund ist es jedenfalls eine echte Herausforderung, beispielsweise die verschiedenen Arten der Graumeisen zuverlässig voneinander zu unterscheiden. Wie aber erkennen sich etwa die Goldhähnchen- oder Starenarten untereinander, wie verhindert die Natur Mischverpaarungen von äußerlich fast identischen Arten im gleichen Lebensraum? Allein dies ein hochkomplexes Thema, bei dem nicht nur biologische Faktoren, sondern auch Gesang und Balzrituale eine große Rolle spielen.

Brutparasitismus und andere „Unarten“

Es wäre vermessen, im Rahmen dieser Buchvorstellung das ganze inhaltliche Spektrum der Publikation wiedergeben zu wollen. Beispielhaft herausgreifen möchte ich an dieser Stelle den Aspekt des Brutparasitismus. Da geht es sowohl real als auch im übertragenen Sinne um das legendäre Kuckucksei. Denn der Kuckuck ist nicht der einzige Vogel, der mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg anderen Arten das Geschäft des Ausbrütens und der Aufzucht seiner Jungen überlässt und dabei erstaunliche Tricks anwendet. So wachsen etwa die Nachkommen der afrikanischen Witwenvögel in Nestern bestimmter Prachtfinkenarten auf und nicht nur manche Starendame brütet ins eigene Gelege eingeschleuste Eier von Artgenossinnen aus. Zugegeben, die Angewohnheiten des Kuckucks sind brutal, aber es gibt auch Abwehrstrategien der potenziellen Opfer. Und so hat es die Evolution mit sich gebracht, dass sowohl der Kuckuck als auch die „Gastarten“ jeweils fein aufeinander abgestimmte Arsenale zur Sicherung ihrer Fortpflanzung entwickelt haben. Bei Kuckuck beginnt das übrigens nicht erst mit der Vernichtung der Gastbrut durch das Kuckucksjunge, sondern bereits vor der Eiablage im Körper der Mutter.

Die wilde Vogelwelt aus neuen Perspektiven betrachtet

Der Leser und Vogelfreund taucht bei der Lektüre tief in die wilde Welt der Vögel ein. Er lernt etwas über komplexe inner- und zwischenartliche Sozialstrukturen, über Balz- und Reproduktionsverhalten, über die Sprache der Vögel, über ihre faszinierenden Sinne und Fähigkeiten und immer wieder über ihre Individualität. Spannend auch, dass die so zerbrechlich und fröhlich wirkenden Flattermänner – es sind immerhin die kleinen „Wald- und Wiesen“-Pieper, die der Autor hier präsentiert – außerordentlich robuste Gesellen mit erstaunlichem Gewalt- aber auch intellektuellem Potenzial sind, zumindest dann, wenn es um die Fortpflanzung geht.
Und nicht zuletzt darf ja das Thema Mensch und Tier und am Ende Artensterben nicht fehlen. Auch hier wieder spannende und überraschende Perspektiven und Erkenntnisse. Nach der Lektüre dieses Buches nimmt der Leser die zwitschernde Welt in Stadt, Land und Garten mit anderen Augen wahr.

Walter A. Sontag: Das wilde Leben der Vögel. C.H.Beck 2020, Gebunden mit Schutzumschlag 240 Seiten.

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