Donnerstag, 7. Mai 2015

Die Katze, die gerne groß sein wollte

Eine Geschichte aus dem  Buch "Mit Katzenaugen"

Klein war sie, die schwarze Katze mit den großen Kulleraugen. Und auch, wenn sie inzwischen schon rund sechs Jahre alt war, wirkte sie immer noch wie ein etwas älteres Kätzchen und nicht wie eine ausgewachsene Katze. So richtig ernst genommen wurde sie von den anderen Katzen nicht. Die machten sich eher einen Spaß daraus, die Kleine zu jagen und, wenn sie nicht rechtzeitig einen sicheren Unterschlupf erreichte, auch zu verprügeln.
So war es kein Wunder, dass die kleine Katze keine Freunde unter ihresgleichen hatte, sie wurde bestenfalls von älteren, weiseren Katzen geduldet. Sie war ein Einzelgänger wider Willen. Immer wieder versuchte sie Kontakt zu anderen Katzen aufzunehmen, aber sie wurde nur weggejagt. Natürlich träumte die kleine Katze davon groß zu sein, am besten größer als alle anderen.
Aber was nützen die schönsten Träume, wenn einen die Wirklichkeit ganz schnell wieder einholt. Deshalb machte sich die kleine Katze schließlich auf den Weg in den Wald, um dort ihre Ruhe vor den anderen zu finden. Tagelang lief sie immer tiefer in den Wald, bis sie sicher sein konnte, keinem Artgenossen mehr zu begegnen. Natürlich gab es hier viele andere Tiere, aber je tiefer sie in den Wald vordrang, desto weniger der wilden Tiere kannten Katzen. Und schließlich gab es keine Tiere mehr, die wussten, dass Katzen normalerweise deutlich größer sind, als die kleine Schwarze. Natürlich, auch hier im Wald wurde die Katze gejagt. Aber sie war klug genug, immer geeignete Verstecke zu finden, wenn der Gegner übermächtig war und sie war im Zweifelsfall auch selbst sehr wehrhaft.
Und die Tiere, die einmal Bekanntschaft mit ihren scharfen Krallen und der Kampfkraft und Schnelligkeit einer wütenden oder in die Enge getriebenen Katze gemacht hatten, bekamen schnell Respekt vor der Kleinen. Und Freunde fand sie auch hier im Wald. Jene Tiere, die wegen ihrer geringen Größe nicht voreingenommen waren und die kleine Katze einfach so nahmen, wie sie war.
Eigentlich konnte die kleine Katze ganz zufrieden sein. Aber sie war trotzdem unglücklich, denn auch wenn die anderen Tiere nicht wussten, dass sie furchtbar klein für eine Katze war - sie wusste es.

Eines Tages kam sie auf ihren Streifzügen an einen tiefen, dunklen Waldsee. Dort verbrachte sie den ganzen Nachmittag und weinte. Sie wollte so gerne groß sein und sie wusste, sie würde es nie werden. Und deshalb weinte sie herzzerreißend, sodass die alten Bäume am Ufer die Äste herabhängen ließen und sie sanft streichelten.
"Warum weinst du so herzzerreißend, meine Kleine?" fragte eine alte Ulme und ließ ihre Zweige raschelnd über das Fell der Katze streifen.
"Ich bin so klein", jammerte die Katze, "und ich werde nie wachsen."
"Du bist klein?" sagte die alte Ulme, "das habe ich gar nicht bemerkt." Und die anderen Bäume am Ufer schüttelten gemächlich ihre Häupter. "Du bist klein?" fragten sie erstaunt.
Die Katze versuchte ihr Problem zu erklären, aber die weisen Bäume wollten es nicht verstehen.
"Du bist hier in den Wald gekommen, ohne zu wissen, was dich erwartet. Du hast dich durchgesetzt, die Tiere haben Respekt vor dir und du hast sogar Freunde. Für eine verwöhnte Hauskatze eine beachtliche Leistung", knarrte die alte Ulme. "Seit du hier bist", wisperte die Ulme verschwörerisch, "bist du gewaltig gewachsen. Schau doch einfach mal in den Teich."
Inzwischen war es Abend geworden und die untergehende Sonne ließ die Wolken, die sich im dunklen Teich spiegelten, in einem tiefroten Licht erstrahlen. Und als die kleine Katze ihr Köpfchen über den stillen Wasserspiegel streckte und hineinsah, da verdeckte ihr Gesichtchen fast den ganzen Himmel und die Wolken.
Jubelnd sprang die kleine Katze auf. "Ich bin gewachsen, ich bin groß geworden, ich bin riesig", kreischte sie überglücklich. Und selbst, wenn sie immer noch zu anderen Tieren aufsehen musste, sie beklagte nie wieder, dass sie zu klein sei.

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