Den Begriff invasiv überdenken
Anhand des Verhaltens und der Wanderungen verschiedener Tierarten, vom Fuchs über die Tigermücke bis hin zu Fischen, Walen und Korallen zeigt der Autor im Reportagestil die Folgen des Klimawandels auf. Dabei wird deutlich, dass sogenannte invasive Arten wie beispielsweise die Tigermücke weder per se „invasiv“, also erobernd und verdrängend sind, noch sich aus „angestammten“ Gebieten ausbreiten. Dem Leser wird deutlich, wie sehr der moderne Mensch die Natur und ihre Dynamik aus seiner eigenen Perspektive, also seiner Expansionssucht einerseits und seinem nationalen und kulturellen Abgrenzungsbedürfnis andererseits betrachtet und interpretiert. Damit liegt er sowohl in seiner Einschätzung hinsichtlich natürlicher Phänomene als auch seiner „Lösungsansätze“ immer wieder gehörig daneben.
Ein Wettlauf ums Überleben
Jenseits der formalen Diskussionen
welche Flora und Fauna beispielsweise zu einem „stabilen heimatlichen Ökosystem“
(das real noch nie existierte) gehört und was als „invasive Art“ zu werten sei,
stellen sich in Zusammenhang mit dem Klimawandel und der natürlichen Reaktion hinsichtlich
des Artenschutzes und der sixth extinction ganz andere Fragen. So zeigt von
Brackel auf, welche unterschiedlichen Ausweichstrategien hinsichtlich der durch
den Klimawandel verschlechterten Lebensbedingungen in ihrem aktuellen Habitat verschiedene
Arten tatsächlich haben, welche Möglichkeiten und Grenzen der Flucht oder
Anpassung ihnen überhaupt zur Verfügung stehen. Tatsächlich ist nur wenigen
Tieren und Pflanzen aufgrund der Geschwindigkeit des Klimawandels ein
Anpassungsprozess möglich, die Flucht die meist einzige Möglichkeit. So wandern
Tiere und Pflanzen entsprechend ihrer jeweiligen biologischen Möglichkeiten so
schnell und so weit, bis sie an die Grenzen ihrer Schutzgebiete oder die
Grenzen der Welt (im sich immer mehr erwärmenden Norden) gestoßen sind oder vom
Klimawandel eingeholt wurden und damit aussterben.
Die Rolltreppe ins Aussterben
Der Autor schildert detail- und kenntnisreich, in welcher Sackgasse sich auch der Mensch inzwischen selbst befindet. Denn sowohl vom Artensterben als auch von der natürlichen Migration ist er selbst ganz konkret betroffen. Die Versuche, die zwangsläufige und notwendige natürliche Migration zu verhindern führen ebenso wie die Bemühungen, Artenschutz durch das Festlegen von statischen „Schutzgebieten“ zu betreiben, zu ihrem Gegenteil. Bei sich auch dort verändernden klimatischen Bedingungen, werden Schutzgebiete zur tödlichen Falle. Von Brackel schlussfolgert wohl zu Recht, dass vor diesem Hintergrund erst das Ermöglichen der natürlichen Migration durch den Menschen und ein konsequenter Klima- und Umweltschutz die einzige Möglichkeit darstellen, auch die Existenz der Spezies Mensch zu sichern. Am Aussterben einer großen Zahl von Arten wird das allerdings auch nichts mehr ändern, wie das Beispiel des Polarfuchses zeigt, dessen nördliche Enklave sowohl aus geografischen als auch klimatischen Gründen wohl bald ganz verschwunden sein wird.
Benjamin von Brackel: Die Natur auf der Flucht. Warum sich unser Wald davonmacht und der Braunbär auf den Eisbär trifft – wie der Klimawandel Pflanzen und Tiere vor sich hertreibt. Heyne 2021. Taschenbuch, 284 Seiten
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