Freitag, 21. Mai 2021

Die Natur auf der Flucht

Umweltjournalist Benjamin von Brackel präsentiert dem Leser mit seinem Buch „Natur auf der Flucht“ die Folgen des Klimawandels aus einer relativ neuen Perspektive: Der Migration als natürliche Anpassungsreaktion auf Veränderungen der Lebensbedingungen. Dabei räumt er – und das ist sicherlich die wichtigste Botschaft – mit der landläufigen Vorstellung von Migration als Bedrohung oder von Ökosystemen als normalerweise in einem statischen Gleichgewicht befindlich, auf.

Den Begriff invasiv überdenken 

Anhand des Verhaltens und der Wanderungen verschiedener Tierarten, vom Fuchs über die Tigermücke bis hin zu Fischen, Walen und Korallen zeigt der Autor im Reportagestil die Folgen des Klimawandels auf. Dabei wird deutlich, dass sogenannte invasive Arten wie beispielsweise die Tigermücke weder per se „invasiv“, also erobernd und verdrängend sind, noch sich aus „angestammten“ Gebieten ausbreiten. Dem Leser wird deutlich, wie sehr der moderne Mensch die Natur und ihre Dynamik aus seiner eigenen Perspektive, also seiner Expansionssucht einerseits und seinem nationalen und kulturellen Abgrenzungsbedürfnis andererseits betrachtet und interpretiert. Damit liegt er sowohl in seiner Einschätzung hinsichtlich natürlicher Phänomene als auch seiner „Lösungsansätze“ immer wieder gehörig daneben.

Ein Wettlauf ums Überleben

Jenseits der formalen Diskussionen welche Flora und Fauna beispielsweise zu einem „stabilen heimatlichen Ökosystem“ (das real noch nie existierte) gehört und was als „invasive Art“ zu werten sei, stellen sich in Zusammenhang mit dem Klimawandel und der natürlichen Reaktion hinsichtlich des Artenschutzes und der sixth extinction ganz andere Fragen. So zeigt von Brackel auf, welche unterschiedlichen Ausweichstrategien hinsichtlich der durch den Klimawandel verschlechterten Lebensbedingungen in ihrem aktuellen Habitat verschiedene Arten tatsächlich haben, welche Möglichkeiten und Grenzen der Flucht oder Anpassung ihnen überhaupt zur Verfügung stehen. Tatsächlich ist nur wenigen Tieren und Pflanzen aufgrund der Geschwindigkeit des Klimawandels ein Anpassungsprozess möglich, die Flucht die meist einzige Möglichkeit. So wandern Tiere und Pflanzen entsprechend ihrer jeweiligen biologischen Möglichkeiten so schnell und so weit, bis sie an die Grenzen ihrer Schutzgebiete oder die Grenzen der Welt (im sich immer mehr erwärmenden Norden) gestoßen sind oder vom Klimawandel eingeholt wurden und damit aussterben.

Die Rolltreppe ins Aussterben

Der Autor schildert detail- und kenntnisreich, in welcher Sackgasse sich auch der Mensch inzwischen selbst befindet. Denn sowohl vom Artensterben als auch von der natürlichen Migration ist er selbst ganz konkret betroffen. Die Versuche, die zwangsläufige und notwendige natürliche Migration zu verhindern führen ebenso wie die Bemühungen, Artenschutz durch das Festlegen von statischen „Schutzgebieten“ zu betreiben, zu ihrem Gegenteil. Bei sich auch dort verändernden klimatischen Bedingungen, werden Schutzgebiete zur tödlichen Falle. Von Brackel schlussfolgert wohl zu Recht, dass vor diesem Hintergrund erst das Ermöglichen der natürlichen Migration durch den Menschen und ein konsequenter Klima- und Umweltschutz die einzige Möglichkeit darstellen, auch die Existenz der Spezies Mensch zu sichern. Am Aussterben einer großen Zahl von Arten wird das allerdings auch nichts mehr ändern, wie das Beispiel des Polarfuchses zeigt, dessen nördliche Enklave sowohl aus geografischen als auch klimatischen Gründen wohl bald ganz verschwunden sein wird.

 Benjamin von Brackel: Die Natur auf der Flucht. Warum sich unser Wald davonmacht und der Braunbär auf den Eisbär trifft – wie der Klimawandel Pflanzen und Tiere vor sich hertreibt. Heyne 2021. Taschenbuch, 284 Seiten

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